»Auch gemeinsame Werte können ein Gefühl von Zuhause geben«
Interview mit Ohad Ben-Ari

Ohad Ben-Ari wurde 1974 in Israel geboren und hat dort insgesamt sein halbes Leben verbracht. Die andere Hälfte hat er sich zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten hin- und her bewegt, zwei Staaten, mit denen Israel lange und komplizierte Beziehungen pflegt. Die Wahl dieser Länder hing mit der großen Leidenschaft im Leben Ben-Aris zusammen – der Musik. Im Alter von 16 Jahren kam er allein nach Frankfurt, um dort Musik zu studieren, mit Anfang zwanzig gelangte er aus demselben Grund nach New York und Los Angeles. Nach einigen Zwischenaufenthalten in Israel kehrte er dann wieder nach Deutschland zurück, diesmal nach Berlin.

Hier beschloss er, sich nicht mit seiner erfolgreichen Karriere als Pianist, Dirigent und Produzent zu begnügen, und initiierte im vergangenen Jahr das ID Festival. Der Name des Festivals verbindet, sozusagen als Andeutung der Grundabsicht, die Anfangsbuchstaben von Israel und Deutschland; zugleich verweist er auf das Metathema, das es begleitet: Identität.

Schwerpunktthema des diesjährigen Festivals ist die Migration. Eine wirkliche Auseinandersetzung mit diesen drei Themen erfordert ein hohes Maß an Offenheit und Kreativität. In diesem Sinne haben wir uns entschlossen, an die Stelle der offiziellen Grußworte, die üblicherweise am Beginn eines Programmhefts stehen, ein persönlicher gehaltenes Interview zu setzen.

Ohad Ben-Ari © Do Hyung Kim

Ohad Ben-Ari © Do Hyung Kim

 

Ein Festival, das sich einem Nachrichtenthema widmet – bietet die Kunst eine befriedigende Perspektive?

»Migration steht in Europa und in Deutschland derzeit im Mittelpunkt des Interesses. Es ist ein Thema, das die lokale Bevölkerung in alltäglicher Weise beschäftigt, und auch uns, die israelische Künstlergemeinde. Die Geschichte des jüdischen Volkes ist voll von Migrationsgeschichten, der Bewegung von Ort zu Ort. Wir selbst sind Migranten, Kinder von Migranten, Enkel von Migranten. So gesehen sind wir, hoffe ich, in einzigartiger Weise dazu prädestiniert, etwas zu diesem Thema zu sagen.«

Werden die Israelis als ›privilegierte Migranten‹, die aus freien Stücken hierherkommen, aber von denselben Fragen umgetrieben wie die Flüchtlinge, die hierherkommen müssen?

»Unter den Teilnehmern des Festivals sind auch Künstler, die als Flüchtlinge hierhergekommen sind. Aber in jedem Fall sind die verschiedenen Kategorien von Migration nicht hermetisch – unterschiedliche Leute haben unterschiedliche und komplexe Geschichten. Auf der anderen Seite gibt es auch zahlreiche gemeinsame Nenner.«

Apropos gemeinsame Nenner – es ist schwer zu übersehen, dass abgesehen von der Kooperation mit deutschen Künstlern, durch die sich das Festival zum Teil definiert, dieses Jahr vor allem türkische und palästinensische Künstler mit von der Partie sind, obwohl Berlin doch Künstler aus aller Welt anzieht. Ist das eine politische Entscheidung?

 

»Es ist nur angemessen, dass wir uns über Fragen der Migration mit unseren natürlichen Partnern aus unserer Region auseinandersetzen. Das Festival ist nicht darauf angelegt, politischen Zielen zu dienen, aber zugleich werden durch bestimmte Dinge, die hier gemacht werden, zweifellos politische Aussagen generiert. Wir befinden uns an einem Ort, der Deutschland heißt, der heute, im Jahr 2016, als neutraler Boden fungieren kann für einen Dialog über verschiedene Fragen und eine Zusammenarbeit mit Leuten, die da, wo wir herkommen, nicht möglich oder zumindest sehr schwer wären. Der Ort senkt Hemmschwellen herab, psychologische wie physische.«

Ich bin an dem Ausdruck ›neutraler Boden‹ hängengeblieben. Betrachtest du das heutige Deutschland als ›neutralen Boden‹?

»Wenn es um die Zusammenarbeit von Juden und Arabern geht, dann ja, dann ist Berlin buchstäblich sehr viel neutraler als beispielsweise der Nahe Osten.«

Manche meinen, dass genau in dem Punkt die deutsche Begeisterung für die israelische Community in Berlin liegt: Die Idee, dass das heutige Deutschland zum ultimativen Ort für Offenheit und Toleranz geworden ist.

»Ich habe mich ganz bewusst dafür entschieden, in der Gegenwart und nicht in der Vergangenheit zu leben. Ich sage nicht, dass man die Vergangenheit vergessen soll, aber die Leute ändern sich, Orte ändern sich – das ist der Gang der Geschichte. Und in jedem Fall ist die Kluft zwischen dem Deutschland von einst und dem Deutschland von heute keine zufällige: Sie ist das Ergebnis von Lernprozessen, von dem Versuch, aus Fehlern der Vergangenheit zu lernen.«

 

Apropos Prozesse − machst du dir Sorgen über das Erstarken der rechtsextremen Alternative für Deutschland?

»Ich mache mir ebensolche Sorgen darüber wie über die Möglichkeit, dass die amerikanische Gesellschaft jemanden wählen wird wie Donald Trump, oder über das Erstarken der Rechten in Israel.«

Also frage ich dich, was deutsche Journalisten mich fragen: Hast du vor, hier zu bleiben?

»Im Moment bin ich hier, und alles in allem lebe ich schon zehn Jahre in Deutschland. Aber ich kann und will mich da nicht festlegen.«

Warum, glaubst du, wird diese Frage immer wieder gestellt?

»Das stört mich nicht, das liegt an einer Mentalität, die fünfzig Jahre in die Zukunft blickt. Das spürt man hier ständig. Wir Israelis kümmern uns mehr darum, was im nächsten Krieg passiert − wir denken nicht wirklich daran, was in zwei Generationen sein wird. Ich glaube nicht, dass diese Frage, wenn sie von Deutschen gestellt wird, von Kritik oder Misstrauen herrührt. Ich hatte die Gelegenheit, mit Personen in den Entscheidungszentren Deutschlands über diese Frage zu sprechen, ob sie fühlen, dass zeitweilige Migration das System hier ausnutzt, und sie haben mir die fortschrittlichste Antwort gegeben, die man sich denken kann: Nein, selbst wenn ihr nur für ein Jahr oder zwei kommt, ist das gut für uns, bereichert uns das, gibt uns das Buntheit, gibt uns das die Möglichkeit, von euch zu lernen, und ihr könnt euch Kenntnisse aneignen und sie an einen anderen Ort mitnehmen. Mich überzeugt diese Antwort voll und ganz.«

Ist die hiesige Kultur wirklich auch offen genug, um sich von der anderen Seite beeinflussen zu lassen? Schon seit einigen Jahren heißt es, dass Berlin das New York

Europas wird, aber wer nach New York zieht und Interesse daran hat, wird sich sehr schnell als Amerikaner fühlen; wer nach Berlin zieht, bleibt immer Ausländer.

»Man kann die Vereinigten Staaten und Deutschland kulturell nicht vergleichen. Die Vereinigten Staaten basieren auf der Idee des Einwanderungslands. In dieser Hinsicht ähneln sie mehr dem israelischen Modell − du willst dahin kommen und dich so schnell wie möglich integrieren. Die amerikanische Sprache und Kultur stellen einen gemeinsamen Nenner dar, der leichter zugänglich ist; es ist eine Tatsache, dass die amerikanische Kultur weltweit in vielen Sparten gewinnt. In Deutschland, mit seiner jahrhundertalten Tradition und Eigenart, liegen die Dinge komplizierter. Es ist eine Herausforderung, ins Innere dieses Systems zu gelangen.«

Ganz persönlich gefragt, nach all deinen Umzügen – wo fühlst du dich zuhause?

»Meine prägenden Jahre habe ich in Israel, den Vereinigten Staaten und Deutschland verbracht, so dass ich mich, was Sprache, Kultur, Lebensweise, Umgangsformen betrifft, in diesen drei Ländern wohl fühle. Wenn ich nach Kalifornien reise, fühle ich mich sehr zuhause, und auch wenn ich nach Israel reise, fühle ich mich sehr zuhause, selbst wenn mir das nicht immer angenehm ist. In Berlin, wo ich auch eine Partnerin und ein Kind habe, fühle ich mich auch sehr zuhause. An jedem Ort fühle ich mich aus anderen Gründen zuhause. Das mag ein inneres Gefühl sein, das ich nur schwer mit Worten erklären kann, aber auch ein gemeinsamer Wertehorizont kann ein Gefühl von Zuhause geben. In Berlin fühle ich, dass die Denkweise mir sehr angenehm ist – Investition in Kultur, langfristiges und nachhaltiges Denken und zugleich der Sinn für ein Maß an Offenheit im gegenseitigen Dialog. In so einer Umwelt zu leben, entspricht meinem Naturell.«

 

Gibt es Momente, in denen du dich hier nicht zuhause fühlst? Momente, in denen du Sehnsucht verspürst, Fremdheit, Zorn?

»Ich weiß, dass es Leute gibt, denen es so geht, etwa gegenüber der Bürokratie oder wegen der mangelnden Flexibilität in bestimmten Situationen, aber mir geht es nicht so. Da ich in den Vereinigten Staaten war, weiß ich, dass die Amerikaner nicht weniger starr sind als die Deutschen, was bestimmte Dinge angeht. Auch bei ihnen gibt es Dinge, die nur strikt nach Anleitung gemacht werden sollen. Gerade wie es in Israel läuft, passt weniger zu meiner Persönlichkeit.«

Und dennoch: Wenn du übermenschliche Kräfte hättest, um eine Sache in Deutschland zu ändern, welche wäre das?

»Das Wetter. Gar kein Zweifel. Dann wäre ich bereit, mich auf Lebenszeit zu verpflichten.«

Kehren wir zum Festival zurück. Im vergangenen Jahr hattest du ein Symphonieorchester zusammengestellt, das allein aus in Deutschland lebenden israelischen Musikern bestand. Das war eigentlich die Vision, aus der heraus das Festival geboren wurde. Warum gibt es diesmal kein Orchester?

»Anfangs dachte ich tatsächlich, das Orchester würde zum Symbol des Festivals werden. Das war ein sehr erfolgreiches Projekt, das Publikum wie auch die Musiker genossen es sehr, und es ist schwer, einen Auftakt zu veranstalten, der einen ähnlich starken Eindruck wie das Orchester hinterlassen könnte. Aber die Wahrheit ist, dass es eine Menge von Ressourcen erfordert, 45 Künstler für eine Veranstaltung zusammenzubringen, sowohl in finanzieller als auch in logistischer Hinsicht.

In diesem Jahr wollten wir die Ressourcen lieber in die Entwicklung von originären Festivalproduktionen leiten: Makembo!, NO-MAD, Lights & Vessels, wie auch die Diskussionsreihe Beyond Borders und die Ausstellung Mother, I have reached the land of my dreams. Auch die Aufführung von Tamer Nafar & Friends stellt eine Premiere dar. Ich bin stolz darauf, dass wir so viel neues und einzigartiges Material auf dem Festival haben. Überhaupt habe ich das Gefühl, dass das Programm in diesem Jahr exakter ist – wir haben gelernt, wer unser Publikum ist, und versucht, eine Choreographie von Veranstaltungen zu schaffen, die glatter läuft. Ich persönlich liebe es, ganze Tage in Festivals abzutauchen, aber im vergangenen Jahr habe ich verstanden, dass das nicht allen Leuten so geht. Also haben wir versucht, das Programm so zu gestalten, dass es ein diversifizierteres Publikum anspricht und gleichzeitig die besondere Atmosphäre bewahrt, die im letzten Jahr zu spüren war. Ich hoffe, es ist uns gelungen.«

 

Interview: Ohad Ben-Ari (Festivalgründer und Künstlerischer Leiter), geführt von Tal Alon (Spitz Magazine Berlin)
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