»Wir können alle Strukturen verändern, die wir geschaffen haben«
Interview mit Steve Sabella

Auf der Website des Künstlers Steve Sabella findet sich eine Liste von Dokumentarfilmen über ihn von 1998 bis heute – eine lange Liste, zumal wenn man bedenkt, dass er erst 41 ist. Sabella scheint der perfekte Protagonist zu sein: Seine Kunst und sein Schreiben sind sehr persönlich, gleichzeitig aber politisch und universal; seine Monologe sind voll Glut und Leidenschaft, lassen gleichzeitig aber Raum für Fragezeichen.

Gemäß journalistischen Gepflogenheiten müsste hier ein informativer Abschnitt folgen, der dem Leser erlaubt, Sabella vor dem Weiterlesen in eine bestimmte Schublade zu stecken. Woher er stammt, woher seine Eltern kommen, wann er nach Berlin kam und andere Angaben, die wir für unsere Aufmerksamkeit voraussetzen. Sabella möchte das lieber vermeiden. Er hat sich, so sagt er, von den Narrativen gelöst, die er früher auf seine Kunst bezogen hat. Nachdem er sein künstlerisches Schaffen jahrelang zugleich interpretiert hat, mussten seine letzten Einzelausstellungen ohne Texte und ohne Titel für die Werke auskommen.

»Das befreit die Betrachter, sie können sich auf das Kunstwerk konzentrieren und sehen, welche Gefühle es in ihnen erzeugt. Ich habe zu der Art Künstler gehört, die über ihre Arbeiten reden und deren Bedeutung fixieren, aber ich habe gelernt und mich weiterentwickelt. Als ich sah, dass die Zeit gekommen ist, habe ich mich davon verabschiedet.«

Steve Sabella © Lindsay Tunkl

Steve Sabella © Lindsay Tunkl

 

In diesem Fall jedoch verbietet der Anlass unseres Gesprächs – seine Teilnahme an der Diskussion Language Beyond Borders am Eröffnungsabend des ID Festivals – Sabella den Luxus des Weltbürgers. Als Palästinenser, der in der Altstadt von Jerusalem aufgewachsen ist und an einer israelisch-deutschen Veranstaltung zu Fragen von Identität teilnimmt, kann er die Politik und die Etiketten schlichtweg nicht außenvorlassen.

»Ich wurde unter der Besatzung geboren, aber in meiner eigenen Vorstellung war ich immer frei, und schließlich gelang es mir, meine Fantasie über meine Realität siegen zu lassen. Es ist mir geglückt, mich von allen Ablagerungen der Besatzung in meinen Adern zu trennen. Als ich 2007 Jerusalem verließ, um nach London zu gehen, hatte ich noch das Gefühl, dass die Besatzung sich in meinem Körper und in meinem Bewusstsein befindet. Israel hat es zu hundert Prozent geschafft, die Vorstellungskraft der Palästinenser zu kolonisieren, uns den Glauben einzuimpfen, wir würden, egal was wir tun, immer unterlegen und besetzt sein.

 

Diese mentale Niederlage spürt man in ganz Palästina – wir sind dahin gelangt, dass die Palästinenser sich gar kein Leben in Freiheit mehr vorstellen können. Und wenn sie sich das nicht mehr vorstellen können, wie sollen dazu in der Lage sein, sich zu befreien? Auf der anderen Seite können die Israelis nicht ohne Angst und Paranoia leben, das ist, was sie zusammenhält. Nimm ihnen die Angst – und der Staat Israel wird verschwinden. Sie glauben, die Besatzung sei eine Lebenstatsache. Aber nein! All die Strukturen werden zerbrechen. Es steht in unserer Macht, jede Struktur zu verändern, die wir auf diesem Erdball geschaffen haben. Ich war einmal der depressivste Typ überhaupt, und ich habe mein Bewusstsein ohne Medikamente geheilt. Es gibt einen Weg nach draußen.«

Diesen Weg beschreibt Sabella in seinem Buch The Parachute Paradox (Das Fallschirm-Paradox), das dieses Jahr im Kerber Verlag erschienen ist. »Ich glaube, das Buch kann Israelis ermöglichen, sich im Spiegel zu betrachten und zu erkennen, was sie tun, und Palästinensern, zu sehen, dass es einen Weg gibt, der sie aus dem unmöglichen Zustand ihres Bewusstseins und ihrer Wirklichkeit herausführt.«

 

Sabella nimmt an dem Festival teil, obwohl er sehr wenig Kontakt mit Israelis in Berlin hat.

»Ich glaube, dass die israelische Gesellschaft eine sehr kranke Gesellschaft ist. Ich habe gemerkt, dass auch bei Israelis, die dem Anschein nach gegen die Besatzung sind, an einem gewissen Punkt aber die ›Trauer…‹ einsetzt. Damit habe ich ein Problem. Kannst du dir vorstellen, dass ich mit jemandem befreundet sein kann, der Vergewaltigung, Sklaverei oder Folter rechtfertigt? Ich hatte immer israelische Freunde in Jerusalem, aber in Berlin habe ich die Wahl, nicht mit jemandem befreundet zu sein, der die Besatzung rechtfertigt. Ich muss mich nicht damit quälen, es ist nicht meine Aufgabe, diesen oder jenen Menschen besser zu machen.

Warum ich mich dennoch zur Teilnahme entschieden habe? Weil ich mich während der Arbeit an meinem Buch mit Elad [Lapidot – dem Organisator der Diskussionen auf dem Festival] getroffen und ihm Dutzende Fragen gestellt habe. Ich konnte es gar nicht glauben, aber nach 41 Jahren auf dieser Erde war Elad der erste Israeli − der erste! −, den ich getroffen habe, der die Besatzung in keiner Weise gerechtfertigt hat. Ich bin also seinetwegen auf dem Festival, nicht wegen Israel, nicht wegen Deutschland und nicht wegen irgendeinem anderen Bullshit.

Ich möchte im Dialog mit einem Menschen stehen, dessen Ethik so ist, obwohl ich weiß, dass ich wahrscheinlich Kritik für meine Teilnahme an dem Festival ernten werde. In Palästina sieht man in mir eine Art Symbol, wenngleich mein Ziel nicht darin besteht, irgendjemanden zu repräsentieren, sondern weiter Dinge zu tun, die ich gern tue.«

Obwohl das Schreiben ein wesentlicher Teil seines Schaffens ist, bleibt die bildende Kunst für ihn die zentrale Anwärterin auf den Thron der ›Language Beyond Boarders‹. »Die Kunst ist so mächtig, da ihre Codes Politikern und den meisten anderen Menschen nicht verständlich sind. Sie funktioniert auf eigentümlichere Weise: Sie sagt, was sie sagen will, ohne es zu sagen. Aus diesem Grund überwindet sie Grenzen. Und ab und an, wenn jemand aus dem System versteht, was vorgeht, kommt die Zensur.«

Aus ähnlichen Gründen betrachtet er Kunst, die in einem einzigen Raum verwurzelt ist, »mit einer einzigen Ideologie und einer einzigen Symbolwelt«, nicht als Kunst: »Das ist Illustration. Der beste Weg, auf dem Kunst geografische Grenzen sprengen kann, ist die Sprengung von Grenzen in deinem persönlichen Bewusstsein. Daher kannst du meiner Meinung nach auch kein Künstler sein, wenn du religiös bist. Wenn du einen bestimmten Gott im Kopf hast, schränkt dich das ein.«

 

Um seine eigenen Bewusstseinsgrenzen zu öffnen, liest er jeden Tag im Internet eine Zeitung aus einem anderen Land.

»Du kannst deine Wahrheit nur finden, wenn du offen für verschiedene Perspektiven bist. Es gibt da draußen nicht die eine Wahrheit, sondern nur Variationen über die Wahrheit, die sich zudem ständig verändern. Ich glaube an nichts Schwarz-Weißes, abgesehen von den Dingen, von denen ich eben sprach – Vergewaltigung, Sklaverei, Folter und Besatzung.«

Die nächste Etappe seines Weltbürgertums ist in etwa sechs Jahren geplant, wenn seine Tochter Cécile die Schule beendet. Mit seiner Lebensgefährtin der letzten zwanzig Jahre, Francesca, will er weiter um die Welt wandern und niemals mehr als sechs Monate an einem Ort bleiben.

»Um die Erde als deine Heimat angeben zu können, musst du dich erst entwurzeln, Dinge von außen betrachten − und dann kannst du wählen, wo du leben willst, und eine universale Weltsicht und ein universales Gerechtigkeitsempfinden entwickeln. Das heißt nicht, dass ich verleugne, woher ich komme. Das ist eine Lebenstatsache, und ich bin sehr stolz darauf. Aber wenn du viele Jahre an anderen Orten gelebt hast, wird die Frage, woher du kommst, zu einem immer unwichtigeren Teil deines Lebens.«

 

Interview: Steve Sabella (Language Beyond Borders), geführt von Tal Alon (Spitz Magazine Berlin)
Lesen Sie das Interview auf Hebräisch auf spitzmag.de

 

Paneldiskussion Language Beyond Borders
als Teil von unserem Festivalauftakt
Freitag 21. Oktober 2016, 19:00 — 21:00, Halle

Tickets 14/10 EUR

Kurator & Moderator:
Dr. Elad Lapidot (Philosoph)

Gäste:
Olga Grjasnowa (Autorin)
Steve Sabella (Künstler, Autor)
Mati Shemoelof (Autor, Lyriker, Journalist und Aktivist)