»Warum sind wir so versessen darauf, unsere Grenzen zu definieren?«
Interview mit
Prof. Wendy M. K. Shaw

 

»Ich glaube, bei vielen Akademikern spielt ein persönliches Moment mit«, sagt Wendy M. K. Shaw, Professorin für Kunstgeschichte islamischer Kulturen an der Freien Universität Berlin, die an der Podiumsdiskussion God Beyond Borders teilnimmt. Selbstverständlich ist das auch bei ihr der Fall.

»Meine Mutter ist muslimische Türkin, mein Vater war Orientalist und jüdisch. Ursprünglich hieß er Shapira, aber als er 1956 in Ägypten lebte, sagte ihm seine Mutter, es sei gefährlich für ihn als Juden, daher nahm er den Namen Shaw an. Er hat dies nie als Identitätswechsel verstanden, da er sich immer als Amerikaner betrachtet hat. Er war einer der ersten jüdischen Professoren in Harvard, aber es war eine Assimilationszeit. Auch meine Familie in der Türkei war säkular, wenngleich die Religion in der Privatsphäre präsent war, vor allem in meiner Kindheit. Insofern bin ich Teil einer familiären Gelehrtentradition, die sehr jüdisch ist, aber ich weiß mehr vom Islam. Noch lustiger ist, dass meine Eltern am 6. Juni 1967 geheiratet haben [während des ›Sechstagekriegs‹].

Meine Mutter hat immer gesagt, sie und mein Vater hätten sich nie als unterschiedlich empfunden, worauf ich erwiderte: ›Naja, ihr habt an dem letzten Tag geheiratet, an dem man noch so denken konnte.‹«

Prof. Wendy M. K. Shaw © Swami Silva

Prof. Wendy M. K. Shaw © Swami Silva

Den Großteil ihrer Kindheit hat Shaw in Los Angeles verbracht. 1978 zog sie für zwei Jahre nach Istanbul. »Ich konnte überhaupt kein Türkisch und lernte es erst dort auf der Schule. Als Teenager bin ich viel dahin gereist und fühlte mich immer sehr zuhause. Als ich aber versuchte, dort wirklich zu leben, erstmals mit 19, dann nochmal mit 32, hat es irgendwie nicht funktioniert.«

In ihrer Forschung bewegt sich Shaw an der Schnittstelle von Postkolonialismus und Kunstgeschichte. »Als ›Historikerin Islamischer Kunst‹ habe ich immer das Problem gehabt, dass es nicht wirklich moderne Kunst ist und ebenso wenig islamische Geschichte. Ich begriff, dass das Konzept Islamische Kunstgeschichte an sich tief im Kolonialismus verankert ist, und ich begann zu überlegen, wie ich Islamische Kunst neu kategorisieren könnte. Das ist sehr kompliziert, da das de facto die Fragen betrifft: Was ist Islam? Was ist Kunst? Worin liegen ihre Grenzen? Mein Zugang zur Geschichte hat sehr viel damit zu tun, wie die Moderne Menschen kategorisiert und diese Kategorien dann projiziert und für Zeiträume absolut setzt, in denen sie nicht als absolut galten. Früher war es ganz normal, Menschen anderer Glaubensrichtungen zu kennen und voneinander beeinflusst zu sein. Ich meine nicht lediglich ein Nebeneinanderleben, sondern kontinuierliche Interaktionen.«

Als Beispiel für unser kategorisiertes Denken über Religion nennt Shaw das Verhältnis zwischen dem Islam und dem Buddhismus. »Das, was die Leute als buddhistisch identifizieren, ist sehr ähnlich zu dem, was ich mit dem Islam erfahren habe. Aber solche Aspekte des Islams sind zur Seite gedrängt worden, gerade in den letzten 20 Jahren. Eines der Verfahren, mit denen der Islam in der Moderne fixiert wurde, begann im 19. Jahrhundert, als Orientalisten herausfinden wollten, was der Islam ist. Sie erkannten, dass das, was die Leute taten, in Wirklichkeit überall sehr kompliziert und unterschiedlich war.

Daher suchten sie nach den Ursprüngen, in der Annahme, der ursprüngliche Islam sei die wahre und reine Lehre — ähnlich wie die salafistischen Bewegungen, die sich auf die ersten 30 Jahre des Islams konzentrieren. Insofern liegt hier eine eigentümliche Wahlverwandtschaft zwischen den Orientalisten und den Fundamentalisten vor. Sie erhalten einen Großteil der medialen Aufmerksamkeit, aber das Merkwürdige ist, dass sich das für die meisten Muslime nie so dargestellt hat. Was sie in den letzten tausend Jahren getan haben, ist nun auf einmal ›falsch‹. Das vermeintlich Authentische wird zum Restriktivsten überhaupt. Wenn wir fragen, was eine Religion ist, erwarten wir eine feste Kategorie. Aber in einem diskursiven Raum gibt es nichts Festes. Wenn wir versuchen, etwas festzulegen, schreibt Platon, stirbt es.«

Für Shaw gibt es so viele Beispiele alltäglichen Verhaltens, die das durchkreuzen, was wir als Grenzen betrachten, dass man sich nur fragen kann, ob dies tatsächlich dem wirklichen Leben entspricht.

»Ein Beispiel, das ich sehr mag, stammt von einen armenischen Bekannten von mir, dessen Familie 1915 ins Exil ging, so dass er auf Zypern aufwuchs. Seine Großmutter, eine armenisch­orthodoxe Christin, kniete zum Beten immer auf einem Teppich nieder und öffnete ihre Hände. Erst als er nach England ging, erkannte er, dass Armenisch­Orthodoxe eigentlich nicht so beten. Hat sie es also falsch gemacht? Ich denke, was sie tat, war für sie normal. Es gibt so viele Beispiele dafür, auf welch unterschiedliche Weise Individuen, aber auch ganze Kulturen ihr Zusammenleben normieren. Daher halte ich interreligiöse Dialoge für künstlich. ›Jeder ab in seine Mannschaft! Jetzt interagiert miteinander!‹… Wir stecken so tief in unseren kategorisierten Identitäten… Warum sind wir so versessen darauf, unsere Grenzen zu definieren?«

Natalia Ali, Halal-Haram, sound installation, burnt clay, loudspeakers, 2016 © Alexander Grossmann

Natalia Ali, Halal-Haram, sound installation, burnt clay, loudspeakers, 2016 © Alexander Grossmann

Dass der IS für viele Menschen einen Vorwand darstellt, alle Muslime zu kategorisieren, überrascht sie nicht. »Das Ausmaß der Tragödie, die wir erleben, ist zu groß, um wirklich darüber nachzudenken; wenn wir also glauben können, dass alle Muslime böse sind, wird ihr Leiden akzeptabel. Dabei wird leicht ignoriert, dass die meisten Menschen, die vom IS angegriffen werden, und die meisten Menschen, die gegen den IS kämpfen, Muslime sind. Es fehlt den Leuten auch jegliche historische Perspektive darauf, wie diese Gruppen solche Macht bekommen haben. Der IS ist nicht einfach vom einen auf den anderen Tag entstanden. In Afghanistan wurden die Taliban von den USA gegen die Sowjetunion hochgezüchtet. Diese Gruppen verwenden mittelalterliche Insignien, um Identität zu erzeugen, aber sie sind an sich sehr modern, erst durch moderne Kriegsführung möglich geworden.«

Wenngleich sie sich in Berlin sehr wohl fühlt, war Shaw doch schockiert über den Mangel an Diversität in der hiesigen Universitätslandschaft.

»Als ich vor zwei Jahren nach Deutschland zog, sagten mir mehrere Professoren, als sie hörten, dass ich halbe Türkin bin: ›Ah, machen Sie sich keine Sorgen, Sie sehen überhaupt nicht türkisch aus, das fällt niemandem auf‹… Die Aufwärtsmobilität in der deutschen Gesellschaft scheint durch das Universitätssystem nicht gefördert zu werden, ganz gewiss nicht durch die Geisteswissenschaften. Dafür gibt es verständliche Gründe, aber die Geisteswissenschaften sind noch immer Hüter der Hochkultur, und was am Ende dabei herauskommt, ist, dass die kulturelle Stimme weiterhin sehr stark im Deutschtum gründet. Ich finde, dass die Universität viel verliert, wenn sie die erstaunliche Diversität Berlins nicht einbezieht und sich nur auf ›hier und da ein paar Kurse‹ beschränkt.

Unterschiedlich zu sein, bedeutet, unterschiedlich zu sein. Es ist nicht immer erfreulich. Mein Verhalten passt besser in andere Kulturen und das mag unbequem sein. Für meine Kollegen ist es definitiv unbequem… Wenn ich darauf zu sprechen komme, wollen sie sich nicht darüber reden. Aber es gibt bestimmte Normen, die nie in Frage gestellt werden, weil es nicht sehr viel Diversität gibt. Und es herrscht ein sich selbst er haltendes System, das es sehr erleichtert, so weiterzumachen.«

 

Interview: Prof. Wendy M. K. Shaw (God Beyond Borders), geführt von Tal Alon (Spitz Magazine Berlin)
Lesen Sie das Interview auf Hebräisch auf spitzmag.de

God Beyond Borders
Sonntag 23. Oktober 2016, 13:30 — 15:00, Saal
Podiumsdiskussion

Kurator & Moderator:
Dr. Elad Lapidot (Philosoph)

Gäste:
Prof. Wendy M. K. Shaw (Kunsthistorikerin für Islamische Kultur)
Hannah Tzuberi (Autorin)
Dauer: 90 Minuten