»Migration ermöglicht keine Abkopplung mehr«
Interview mit Alona Harpaz & Sharon Horodi

Im September 2015 wurde auf der Facebook­seite von CBS News ein 36-­sekündiges Video gezeigt: nächtliche Aufnahmen von Flüchtlingen, die gerade über das Meer auf die griechische Insel Kos gelangt sind. Einer von ihnen erkennt plötzlich seinen kleinen Sohn und seine kleine Tochter, die er in der Dunkelheit und im Tumult der Landung aus den Augen verloren hat. In großer Erregung umarmt und küsst er sie und sagt ihnen immer wieder mit tränenerstickter Stimme: »Wir haben es geschafft, wir haben es nach Europa geschafft.«

Als die Künstlerin Alona Harpaz diese Szene betrachtete, war ihr sofort klar, dass sie damit etwas machen muss. Nach reiflicher Überlegung schuf sie, eine der Gründerinnen der Kreuzberger Kunstgalerie CIRCLE1, eine dreidimensionale Neon-­Arbeit, die den Satz »My darling we have reached Europe« in grellem Rosa aufblinken lässt.

Alona Harpaz – My darling we have reached Europe, neon, glass, exhibition view, 2016 © Boaz Arad

Alona Harpaz – My darling we have reached Europe, neon, glass, exhibition view, 2016 © Boaz Arad

Ella Littwitz, Eucalyptus, single-channel video, 16:49 min., 2011 © the artist

Ella Littwitz, Eucalyptus, single-channel video, 16:49 min., 2011 © the artist

Dennoch hat es sie zuerst erschreckt, ja in Panik versetzt, als der künstlerische Leiter des ID Festivals, Ohad Ben­-Ari, sie bat, auch dieses Jahr eine Sonderausstellung für das Festival zu kuratieren, das diesmal die Migration zum Schwerpunktthema hat:

»Das ist ein schweres Thema, voll von Fallen… Es ist auch nicht mein Stil — es ist direkt, ›heiß‹, ›hip‹, und ich bin ein Mensch, der sich Zeit nimmt mit Reaktionen. Aber dann begriff ich, dass sich meine gerade in der Produktion befindliche Arbeit bereits mit dem Thema beschäftigt. Da dachte ich mir: ›Du bist doch schon da, warum also weglaufen?‹«

 
Olaf Kühnemann - Ermitage, oil on canvas, 135 x 200cm, 2005-2007 © Ilit Azoulay

Olaf Kühnemann – Ermitage, oil on canvas, 135 x 200cm, 2005-2007 © Ilit Azoulay

Passend zu einem Festival, dessen Titel neben anderem eine Abkürzung für ›Israel­Deutschland‹ darstellt, wurden zu dem Kuratorenteam anfangs zwei deutsche Kuratorinnen hinzugezogen.

»Sie sind mit Begeisterung zu dem Projekt gestoßen, dann aber nach einiger Zeit ganz plötzlich aus politischen Gründen ausgestiegen, wegen des israelischen Kontextes. Das ist wie etwas, über das man nicht reden soll, aber ich finde, hier ist etwas Wichtiges zu beobachten, da es immer wieder passiert. Aber dennoch haben wir die Ausstellung realisiert, und das Schöne ist, dass sich zwar die Deutschen aus dem Staub gemacht haben, dafür aber syrische und türkische Künstler dabei sind.«

In diesem Stadium schloss sich Sharon Horodi Harpaz als Co­Kuratorin an, eine Künstlerin, Kuratorin und soziale Aktivistin, die seit 2012 mit ihrer Familie in Berlin lebt. Horodi überzeugte Harpaz davon, den Namen beizubehalten, den die deutschen Kuratorinnen vor ihrem Abgang für die Ausstellung vorgeschlagen hatten: Mother, I have reached the land of my dreams— eine Variation des Titels von Harpaz‘ Neon­Kunstwerk.

»Das ist das Geschenk, das sie uns zurückgelassen haben«, sagt Harpaz lächelnd.

Horodi: »Von Alona gibt es zwei Arbeiten in der Ausstellung, die, wie ich finde, eines der zentralen Spannungsfelder darstellen, mit denen wir uns beschäftigen. Die Neon­-Arbeit bezieht sich auf die Migration von Menschen, die einen Ort auf einem ›Un-­Weg‹ verlassen, einem illegalen Weg, mit oder ohne Anführungszeichen; die zweite Arbeit ist ein Video, das bei einer Passkontrolle am Flughafen aufgenommen wurde und sich augenscheinlich auf die ›respektable‹ Migration westlicher, wohlhabender Menschen bezieht.

Die Ausstellung bewegt sich zwischen diesen beiden Polen, die in bestimmter Hinsicht auch nicht wirklich einander entgegengesetzt sind. In jedem Fall haben wir keine Arbeiten gesucht, die Migration illustrieren, sondern Künstler, die in ihrer Arbeit stark von ihrer existentiellen Lage als Migranten geprägt sind.«

 

Bettina Allamoda, Wall Wear, from the series All Dressed Up, collage, pigment print on photoboard, 100 x 70cm, 2006 © the artist

Bettina Allamoda, Wall Wear, from the series All Dressed Up, collage, pigment print on photoboard, 100 x 70cm, 2006 © the artist

 

Harpaz: »Auch die Arbeiten, die sich direkt auf die Flüchtlingskrise beziehen, tun dies dezent und sensibel. Nicht wie Ai Weiwei, der sich selbst als toter Flüchtling am Strand fotografiert hat…«

Horodi: »Eine der Arbeiten von Anina Brisolla etwa stellt eine Art Readymade dar — sie zeigt in der Ausstellung einen Imagefilm einer Firma, die verschiedene Sorten von Zäunen herstellt. In dem Film ist von allem Möglichem die Rede, nur nicht von dem Zweck, dem die Zäune dienen.«

Nicht wenige der Arbeiten in der Ausstellung arbeiten mit Texten. Die syrische Künstlerin Natalia Ali zeigt eine skulpturartige Installation, die aus Mündern besteht, und aus ihnen kommen die Wörter ›Haram‹ und ›Halal‹, denen im Islam zentrale Bedeutung zukommt.

»Das bezieht sich auf rein und unrein, in Ordnung und nicht in Ordnung«, fügt Horodi hinzu. »Die Gegensätze und die Pole finden sich auch innerhalb der Arbeiten selbst wieder und auch in der Ausstellung als Ganzes.«

Natalia Ali, Halal-Haram, sound installation, burnt clay, loudspeakers, 2016 © Alexander Grossmann

Natalia Ali, Halal-Haram, sound installation, burnt clay, loudspeakers, 2016 © Alexander Grossmann

 
Nezaket Ekici, Papa’s Poem, 3-channel video, 1:46 min., 2016, video still © Branka Pavlovic

Nezaket Ekici, Papa’s Poem, 3-channel video, 1:46 min., 2016, video still © Branka Pavlovic

Die Video­künstlerin Nezaket Ekici, die in jungen Jahren aus der Türkei nach Deutschland emigriert ist, zeigt in der Ausstellung eine Arbeit, in der sie auf Türkisch, Englisch und Deutsch ein Gedicht vorliest, das ihr Vater in den ersten Tagen nach seiner Ankunft in Deutschland geschrieben hat.

Horodi: »Viele der Arbeiten tragen sozusagen die Elterngeneration auf dem Rücken. Ihr Vater ist als gebildeter Mensch gekommen, und musste in Deutschland unqualifizierte Arbeiten verrichten. Aber er schrieb weiter Gedichte, und das Gedicht, das er Anfang der Siebziger Jahre schrieb, handelt von der kulturellen Kluft und dem Verhalten der Deutschen gegenüber den Immigranten.«

Horodi und Harpaz, die selbst Anfang der Siebziger Jahre geboren wurden, sind Teil einer Einwanderergeneration, die die Migration in zwei absolut verschiedenen Phasen erlebt hat. Horodi verließ Israel erstmals 1995, damals zog sie nach Schweden.

»Dieser Umzug war ein wirklicher ›cut‹. Ab und an bekam ich einen Umschlag mit Zeitungsausschnitten geschickt, damit ich wusste, was passiert… Und dann, nach einigen Jahren, in denen ich wieder in Israel gelebt habe, zog ich vor vier Jahren nach Berlin und wurde sehr enttäuscht. Ich wollte mich abkoppeln, und es war nicht mehr möglich. Die Medien begleiten uns an jeden Ort, und die Migration ermöglicht keine Abkopplung mehr.«

Harpaz: »Ja, auch mir schickte man noch Artikel, obwohl ich erst 2001 umzog… Das hatte etwas Wunderbares, denn in den ersten Jahren lernte ich nur deutsche Freunde kennen, ich heiratete auch einen deutschen Mann — und ich war überhaupt nicht mit dem verbunden, was in Israel passiert, und das hat dafür gesorgt, dass ich den Ort ganz anders erleben konnte.«

Alona Rodeh, The Carrier, M.D.F, aluminum and Plexiglas, 2015 © Vlad Margulis

Alona Rodeh, The Carrier, M.D.F, aluminum and Plexiglas, 2015 © Vlad Margulis

 

Harpaz: »Die Medienrevolution und danach auch der Aufbau der CIRCLE1 haben mir die Verbindung zurückgegeben. Was ich mache, mache ich mit ganzem Herzen, aber ich spüre auch eine gewisse Sehnsucht. Ich hätte nie gedacht, dass ich irgendwann einmal Apps löschen müsste, um mich für einige Zeit von den israelischen Medien zu dispensieren… Andererseits hat mir das auch in meiner Kunst die Verbindung zu meinem Israelitum wiedergebracht. Ich fühle, dass ich weiß, wer und wo ich bin, und mir geht es gut damit.«

Ist Deutschland also tatsächlich das ›Land deiner Träume‹?

Harpaz: »Manche Deutsche werden sich gegenüber dem Titel der Ausstellung vielleicht ironisch verhalten, aber für mich ist Berlin tatsächlich das Land meiner Träume.«

Horodi: »In Wahrheit sind die Deutschen aus meiner Sicht gar nicht die ersten Adressaten der Ausstellung. Als ich überlegte, an wessen Besuch der Ausstellung ich interessiert bin, dachte ich mehr an andere Immigranten.«

 

Interview: Alona Harpaz und Sharon Horodi (Mother, I have reached the land of my dreams), geführt von Tal Alon (Spitz Magazine Berlin)
Lesen Sie das Interview auf Hebräisch auf spitzmag.de

Spacedigger, Anxious Borders, installation, 2016 © Duygu Atçeken

Spacedigger, Anxious Borders, installation, 2016 © Duygu Atçeken

 

Ausstellungseröffnung
Freitag 21. Oktober 2016, 17:00 — 00:00, Studio B + C
Ausstellung

Öffnungszeiten der Ausstellung
Freitag, 21. Okt 2016 17:00–00:00
Samstag, 22. Okt 2016 14:00–22:00
Sonntag, 23. Okt 2016 13:00–21:00

KünstlerInnen: Natalia Ali, Bettina Allamoda, Anina Brisolla, Nezaket Ekici, Amir Fattal, Eldar Farber, Francesca Fini, Alona Harpaz, Olaf Kühnemann, Ella Littwitz, Shahar Marcus, Angus Massey, Alona Rodeh, Spacedigger, Amir Yatziv

Kuratorin: Alona Harpaz (CIRCLE1)
Gastkuratorin: Sharon Horodi
Technische Leiterin: Keren Shalev
Kuratorische Texte: Hemda Rosenbaum
Produktion: Revital Michali
Koordinatorin: Inbal Levertov
Public Relations: Vanessa Lorenz, Dorit Rubin-Elkanati