»Ich betrachte Kunst als Übersetzungsarbeit«
Interview mit Gal Naor

 

Zwölf Jahre lang hat Gal Naor seine Stimme nicht auf der Bühne hören lassen. Das letzte Mal, dass er sie vor einem Publikum zum Einsatz brachte, war bei einer Aufführung im Gymnasium. Bei den vielen Produktionen, an denen er seit her beteiligt war — als Tänzer­ Choreograf und als Schauspieler­ Regisseur —, machte er ›lip sync‹ zu den Stimmen anderer und verwendete die Gebärdensprache.

»Mit 18 habe ich das letzte Mal auf der Bühne gesprochen, und heute, mit 30, wird es Zeit, dass ich zu meiner Stimme zurückkehre«, sagt er im Gespräch über seine Performance Lights & Vessels, die auf dem ID Festival zum ersten Mal zu sehen ist.

»Zu meiner Stimme zurückkehren« — das ist hier auch metaphorisch gemeint. Erstens, weil Naor — sein Bühnenname ist The Progressive Wave, eine wörtliche Übersetzung seines tatsächlichen Namens — seine »größte Angst« überwunden hat und solo auftritt; zweitens, weil seine Stimme sich nicht nur im Klang ausdrückt (diesmal macht er ›lip sync‹ für sich selbst), sondern auch in den Inhalten der Performance. Für die Dauer einer Stunde bietet Naor eine Art persönlichen Einführungsvortrag in die jüdische Mystik, die Kabbala.

Gal Naor © the artist

Gal Naor © the artist

 

»Schon vor rund zwölf Jahren habe ich mich für die Kabbala zu interessieren begonnen, aber erst nach der Suche in Indien und Ostasien bin ich zu ihr zurück­gekehrt, und erst vor Kurzem überkam mich wirklich das Gefühl, dass die Zeit reif dafür ist, mich auch in meiner Kunst mit dem Geist zu beschäftigen«, erklärt er. Gegenwartskunst ist heute mehr mit kritischer als mit spiritueller Haltung verbunden.

Fürchtest du nicht, dass die Performance als ›New Age‹ aufgenommen wird?

»Früher hätte ich mich dafür entschuldigt, dass ich überhaupt an eine höhere Macht glaube, aber heute sehe ich keinen Grund mehr dazu. Klar, dass ich gleichzeitig auch vorsichtig bin. Als Queer­Artist, der viele Queers und Schwule zu Freunden hat, muss ich kritisch sein, wenn von Religion die Rede ist. Religionen haben der Welt viel Hass und Zerstörung gebracht. Die Vorlesungen, die ich höre, stammen von Rabbinern, die einen Lebensstil pflegen, der Lichtjahre von dem meinen entfernt ist…

Aber es gibt einen Unterschied zwischen Religion und Wissen, und ich beziehe mich auf die Kabbala als Quelle von Wissen. Aus meiner Sicht müssen die Dinge immer mit der Idee der Kabbala in ihrem Wortsinn übereinstimmen — Annahme, Akzeptanz.

Das Wesen der Kabbala ist eine wundervolle und aufregende Weisheit, aber man hat sie mit vielen Dingen überdeckt, und ein Teil meiner Mission besteht eben darin, die Relevanz dieser Welt säkularen Juden zurückzugeben, und auch Leuten, die überhaupt nichts mit dem Judentum zu tun haben.«

Was du machst, hat also nichts mit Rückkehr zum Glauben zu tun?

»Wenn ich straight wäre, wäre ich vielleicht zum Glauben zurückgekehrt, aber ich bin so froh, dass mir dieser Weg versperrt bleibt, weil ich schwul bin. Ich mag diese Kombination sehr, schwul zu sein und nicht in Israel zu leben und mich von einer authentischen Position aus mit der Kabbala und dem Judentum zu beschäftigen. Du wirst mich jetzt komisch angucken, aber in letzter lege ich Gebetsriemen an.«

Wie hast du gelernt, Gebetsriemen anzulegen?

»Ich hab mir eine Anleitung bei Youtube angeschaut… Vor zwei Jahren hab ich mir aus Israel die Gebetsriemen von meiner Bar­Mizwa mitgebracht, aber erst vor einigen Monaten hab ich angefangen, was mit ihnen zu machen. Es ist leicht, den Tag mit Facebook zu beginnen, aber es ist irgendwie richtiger, dein eigenes Zentrum zu finden.«

 

Die Performance besteht in einer Art Vortrag mit Elementen von Tanz, Gebärdensprache und visuellem Geschehen. Im Mittelpunkt steht so etwas wie ein Experimentiertisch mit Glasgefäßen, in denen sich eine leuchtende Flüssigkeit befindet. Diese beziehen sich auf den Titel der Performance, Lights & Vessels, Grundbegriffen der Kabbala, mit denen sich Naor in seinem Text auseinandersetzt. Er hat vor, diese und andere Ideen als Teil einer Performance­-Trilogie weiterzuentwickeln, die Science of Signs heißen soll, ein Titel, der sich u. a. auf seine intensive Beschäftigung mit der Gebärdensprache bezieht. Die Sprache hat er von seinen tauben Großeltern gelernt und dann auch auf der Universität. Sie wurde zu einem wesentlichen Element seines Schaffens wie auch seiner all täglichen Arbeit als Gebärdensprachendolmetscher und Fremdenführer für taube israelische Touristen in Berlin. Mit der Übersetzung als umfassenderes Konzept hat auch seine Neigung zu tun, sich auf der Bühne mit der Kabbala zu befassen.

»Ganz allgemein betrachte ich Kunst als Übersetzungsarbeit. Ideen sind etwas Metaphysisches, das die Kunst in unterschiedliche physische Dimensionen übersetzt. Als Choreograf, der auch Dolmetscher ist, interessiert mich immer das Da zwischen der Sprachen: zwischen Tanz und Theater, zwischen der alten und der gegenwärtigen Sprache, zwischen mystisch und wissenschaftlich, zwischen religiös und säkular…«

»Das Wandern zwischen kulturellen Räumen ist ein hervorstechendes Merkmal jeder Übersetzungstätigkeit. Jeder Übersetzer ist zweisprachig, alles Zweisprachige ist zweikulturell, und praktisch bedeutet das, dass jede Übersetzung immer auch eine kulturelle Vermittlung darstellt. Die Beschäftigung mit der Kabbala ist aus meiner Sicht mit der Frage danach verknüpft, was eine ›reine Sprache‹ ist, die an kein bestimmtes Sprachsystem gekettet ist, an keine bestimmte Kultur. In meiner Performance versuche ich mich an einer Vereinfachung komplexer spiritueller Botschaften.«

›Vereinfachung‹ ist ein recht ungewöhnliches Wort im Kontext der Gegenwartskunst.

»Die ganze Performance versteht sich als Einladung und Angebot. Sie regt die Fantasie an und es ist auch gut, wenn es Dinge gibt, die unverständlich bleiben. Die Sprache der Kabbala ist vor allem anderen wirklich eine verborgene Sprache, ich selbst habe noch unzählige Schichten in ihr zu entdecken. Die Idee der Vereinfachung ähnelt der Idee der Übersetzung: Man nimmt Information von einer Sprache und ordnet sie so in einer neuen Ordnung an, dass sie den autonomen Gesetzen einer anderen Sprache entspricht.«

 
Lights & Vessels © Guy Landver

Lights & Vessels © Guy Landver

Du hast erwähnt, dass du dich zu Zwischenzonen hingezogen fühlst. Betrifft dies auch dein Verhältnis zur Migration?

»Als Migranten haben wir eine vielschichtige Identität. Wir können ein ganzes Leben zwischen Sprachen und Kulturen verbringen und noch immer keine volle Zugehörigkeit zu einer der Gesellschaften empfinden. Fehlende Zugehörigkeit kann auch frei gewählt sein. Migration ist ein Bewusstseinszustand, ein Zustand, den immer mehr Menschen auf der Welt als Lebensform wählen. Ganz gewiss in einer Stadt wie Berlin.

Die Erfahrung des Fremdseins unterstreicht oder ermöglicht vielleicht eine innere Verbindung. Überhaupt ist die ›Alterität‹ ein Begriff, aus dem heraus ich unbewusst immer agiere, sei es über Taubheit oder Queerness. Queer zu sein, bedeutet für mich, Denken anzuregen, jene, die es zu bequem haben, herauszufordern, etwas zu verändern, auch sich selbst. Queer zu sein, bedeutet für mich nicht an einem bequemen Ort zu bleiben, sondern die Aktionsfelder unseres Bewusstseins beharrlich auszuweiten.«

 

Interview: Gal Naor (Lights & Vessels), geführt von Tal Alon (Spitz Magazine Berlin)
Lesen Sie das Interview auf Hebräisch auf spitzmag.de

 

 

Lights & Vessels
Freitag 21. Oktober 2016, 21:30 — 22:30, Studio A
Performance
Dauer: 60 Minuten

weitere Vorstellungen Samstag 22:00 Uhr und Sonntag 21:00 Uhr

Tickets: 14/10 EUR

Konzeption, Choreografie, Performance: Gal Naor
Künstlerischer Co-Leiter, Dramaturgie: Matan Zamir
Bühne / Licht / Video Design: Marc Jungreithmeier
original music composition: Ori Alboher
Kostüme: Don Aretino
Produktionsmanagement: Ann-Christin Görtz
Text Transkription: Bennet Togler