»Ich ziehe ein moralisches Publikum einer moralischen Bühne vor«
Interview mit Micki Weinberg

 

Micki Weinberg © Kfir Harbi

Der stechende Blick seiner blauen Augen, der schwere Ton seiner Rede und die unzähligen Anspielungen auf Bibel, Midrasch und Dutzende anderer Texte können den Gesprächspartner von Micki Weinberg leicht zweifeln lassen, ob er wirklich erst 32 Jahre alt ist und Makembo!, eine der Originalproduktionen des diesjährigen ID Festivals, tatsächlich sein erstes Drama darstellt, das es auf die Bühne schafft. Aber wie er selbst in einem anderen Zusammenhang meint: »Das Leben ist voller Widersprüche, die sich nicht nach unseren Bedürfnissen einebnen lassen.«

Im vergangenen Jahr wurde auf dem Festival sein Kurzfilm I Hear the Synth in East Berlin gezeigt, und auch das Stück, das er dieses Jahr geschrieben und inszeniert hat, enthält cineastische Elemente. Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen beiden Werken besteht in ihren provokativen Aussagen und der Rolle sexueller Gewalt, derentwegen es Weinberg sehr wichtig ist, nach der Aufführung mit dem Publikum zu diskutieren.

Geboren und aufgewachsen in Los Angeles, hat Weinberg in London, Genf und Jerusalem gelebt, bevor er seine Zelte in Berlin aufschlug. Wenngleich er noch viel in der Welt herumreist, ist seine Basis seit einigen Jahren eine geräumige Altbauwohnung in Mitte, deren Einrichtung hauptsächlich aus Büchern besteht. Während des Gesprächs zieht er immer wieder welche aus dem Regal, um seine Worte mit Zitaten zu untermauern.

 

Makembo! ist eine moderne Adaption der biblischen Geschichte von Josef, Potifar und Potifars Frau vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise in Europa im Allgemeinen und Deutschland im Besonderen. Weinbergs Potifar ist der Enkel des Nazi­-Architekten, der Prora gebaut hat, die gigantische Ferienanlage der NS-Organisation Kraft durch Freude auf der Insel Rügen. Sein Traum ist, sie neu zu errichten und Deutschland damit Glanz und Größe zurückzubringen.

Um seinen Traum zu verwirklichen, muss er den Prinzen von Rügen überzeugen, etwa tausend afrikanische Flüchtlinge auf die Insel zu bringen, die Prora zum Preis von Kost und Logis wiederaufbauen. Der Prinz wird im Gegenzug von der deutschen Regierung für jeden Flüchtling ein Kopfgeld erhalten. Um den Prinzen für die Zusammenarbeit zu gewinnen, bringt Potifar Josef auf die Insel, als eine Art ›Vorzeigeflüchtling‹. Er soll den Prinzen überzeugen, dass sich das Geschäft auszahlt und die Flüchtlingskrise Deutschland vielleicht sogar eine goldene Gelegenheit bietet, seinen schlechten historischen Ruf mit dem neuen Image eines Helfers der Schwachen aufzupolieren. Bereits bei seinem ersten Treffen mit Josef verfügt der Prinz, er solle seinen Namen ändern und fortan Makembo heißen.

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Prora 2016 © Micki Weinberg

ID Festival 2016 Makembo!

Karla Nina Diedrich © Dustin Lynn

»Dieser Name repräsentiert die europäische Vorstellung von Afrika«, erklärt Weinberg.

»Gott behüte, dass der Afrikaner Josef heißt. Er kann nicht Josef sein, er ist Makembo! Das bezieht sich auch auf die Tatsache, dass der Flüchtlingskrisendiskurs größtenteils von privilegierten Europäern geführt wird. Kannst du im europäischen Diskurs den Namen auch nur eines einzigen Flüchtlingsführers finden?«

Die Dinge werden kompliziert, als Potifars Frau, Charlotte, wie die biblische Figur versucht, Josef­-Makembo zu verführen, aber von ihm zurückgewiesen wird. Sie beschuldigt ihn der Vergewaltigung und gefährdet so Potifars grandiosen Plan.

 

»Allein die Idee, eine reaktionäre Geschichte im Kontext von heute neu zu erzählen, ist provokativ«, erläutert Weinberg. »Du musst die Kritik gar nicht mitliefern — das obliegt den Zuschauern. Das ist auch, was für mich interessant ist. Ich habe keinerlei Interesse daran, eine Geschichte in der totalitären Weise zu erzählen, wie es heute in den meisten Medien üblich ist. Dass wir um Gottes Willen bloß nichts zu sehen bekommen, was jemanden verletzen und das Publikum zu einer Reaktion animieren könnte. Ich ziehe ein moralisches Publikum einer moralischen Bühne vor.

Damit stehe ich selbstverständlich in der Tradition Brechts, der gegen die aristotelische Katharsis auf der Bühne angeht und die Katharsis in die Gesellschaft bringen will. Aber das hat auch im Judentum tiefe Wurzeln. Es gibt viele Geschichten, bei denen du dich fragst, warum man sie verewigt: die Opferung Issaks, Jefta, der seine einzige Tochter opfert, Juda, der Tamar, die Witwe seines Sohns schwängert… Warum werden moralisch so problematische Geschichten weitergetragen? Weil du, wenn du eine saubere, moralische und sterile Geschichte erzählst, dem Prozess der Neuinterpretation aus dem Weg gehst. Ich wünsche mir sehr, dass wir den jüdischen Text wieder als lebendiges Zeugnis betrachten. Aus meiner Sicht ist das Stück eine direkte Fortsetzung der jüdischen Diskussionstradition.«

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Prora 2016 © Micki Weinberg

Warum kommt sexueller Gewalt in deinem Schreiben einso zentraler Stellenwert zu?

»Das Drama und der Film sind Teil einer Trilogie, dessen dritter Teil ein modern­avantgardistischer Midrasch zu Juda und Tamar sein wird, so dass sich die drei Werke tatsächlich mit sexueller Gewalt beschäftigen. Im Unterschied zur Vergewaltigung, die sich ihrem Wesen nach gegen Interpretation sperrt, steht sexuelle Gewalt in ihren verschiedenen Facetten in Beziehung zu Themen wie Wahl und Nicht­-Wahl, Freiheit und Unfreiheit, Begierde und Nicht­-Begierde. Sie bietet eine Allegorie für all die emotionalen und sozialen Probleme, mit denen wir ringen. Ich möchte Dinge zeigen, die wir nicht gern sehen, die aber in unserer Gesellschaft nichtsdestoweniger existieren. Gerade in der Ästhetik roher Gewaltsamkeit können wir unsere Menschlichkeit in ihrer ganzen Tiefe erfahren.«

Fürchtest du dich nicht vor feministischer Kritik?

»Ich finde, mein Werk ist feministisch. Die Idee hinter dem Film und dem Drama ist die Diskussion danach. Man sieht mit Unbehagen bis zum Ende zu und fängt dann an zu reden. In der Welt, in der wir leben, gibt es Menschen, die vergewaltigt werden und ihren Vergewaltigern nachlaufen, ja sogar ihre Vergewaltiger lieben. Das liegt in der Natur von Manipulation und Unterdrückung.«

Prora 2016 © Micki Weinberg

Prora 2016 © Micki Weinberg

Prora 2016 © Micki Weinberg

Prora 2016 © Micki Weinberg

»In dem Moment, in dem du weißt, dass du unterdrückt wirst, in dem du anfängst, Widerstand zu leisten, beginnt in gewisser Weise deine Befreiung. Wenn ich das Befreiungsgefühl nicht beim Zuschauen er mögliche, sondern erst in der Analyse danach, möchte ich eben diese Bewusstwerdung evozieren.

Das ist viel feministischer als irgendein Prediger­-Film mit tragischer Musik am Ende, der uns sagen lässt, wie traurig wir uns fühlen wegen dieses Mädchens und wie dankbar wir sein können, dass wir in einer Gesellschaft leben, die versteht, dass das nicht in Ordnung ist. Denn das ist eine Lüge! Es ist schlicht eine Lüge, so zu tun, als verkörpere unsere Gesellschaft die Werte, die uns auf dem Bildschirm präsentiert werden. Ich will Teil einer revolutionären künstlerischen Aktion sein, die die Revolution im Publikum stattfinden lässt, die Leute dazu bringt, ihre Grundannahmen zu hinterfragen.

Ich biete keine Lehren an und ich will auch niemandem vorschreiben, was er zu denken hat — ich will nur die Masken herunterreißen. Ich bin überzeugt, dass der erste Schritt zu einem Wandel darin besteht, die Dinge zu betrachten und zu analysieren.«

 

Interview: Micki Weinberg (Makembo!), geführt von Tal Alon (Spitz Magazine Berlin)
Lesen Sie das Interview auf Hebräisch auf spitzmag.de

Makembo!
Samstag 22. Oktober 2016, 20:00 — 21:00, Halle
Theater
Dauer: 60 Minuten

Tickets: 14/10 EUR

Regie/Text: Micki Weinberg

Schauspieler
Potiphar: Philipp Droste
Der Prinz von Rügen: Florian Fischer
Charlotte: Karla Nina Diedrich
Joseph/Makembo: Jerry Kwarteng

Kamera: Dustin Lynn
Bühnenbild : Manuel Schubbe
Partitur und Musik: Kriton Klingler-Ioannides
Produzentin: Birta Olafsdottir